ein Band mit mal kuriosen, meist satirischen aber auch mal nachdenklichen Erzählungen erscheint voraussichtlich im November 2025. Hier schon mal als "Vorspeise" die Titelgeschichte:
Was benötigt man für eine historische Stadtkernführung? Einen historischen Stadtkern? Nun, darüber könnte man streiten. Ein solcher ist in unserer schönen Heimatstadt nämlich nicht vorhanden, was den ebenso kundigen wie fülligen Stadtführer ein wenig verlegen macht. „Normalerweise wird auf Führungen immer irgendetwas gezeigt“, spielt er eine hilflose Bewegung, um dann trotzig in die Gruppe wissensdurstiger Enttäuschter zu blicken, „in diesem Sinn ist dies eine ungewöhnliche Führung, denn: Sie sehen wirklich nichts!“
Er schart die verdutzten Rentner um sich, hantiert mit Heftchen und Fünf-Euro-Scheinen, dem Obolus für die historische Stadtkernführung. Erste Zweifel kommen auf: denn wo es nichts zu sehen gibt, ist vielleicht nie etwas gewesen…? Eine Führung soll es trotzdem geben, für Spannung ist gesorgt, lassen wir uns darauf ein.
Zugemutet wird uns ein 90minütiger Fußmarsch durch die wahrhaft nicht besonders attraktive Innenstadt. Schnaubend wälzt sich der Tross durch die verödeten Straßen. Verweilt er an einem nichtssagenden Ort (etwa an der Ecke Kapuzinergasse / Rathenaustraße), spitzt er bereitwillig den Mund zu einem bedeutungsvollen „Oh!“ oder es entrinnt ihm ein raunendes Ahnen.
Doch die Erkenntnis wächst, dass der Führer wohl Recht hat: Kein verwitterter Rest der ehemaligen Stadtmauer, kein alter Brunnen, keine ehrwürdige Gründerzeit-Villa – nichts! Die Skala des Nichts reicht von der unsichtbaren Friedhofsmauer am Burgplatz bis zu einem imaginären Wildschweinknochen - zirka 10.000 Jahre alt - am Viehofer Platz. Der wurde zwar irgendwann tatsächlich gefunden, ist aber nur noch im Museum zu bestaunen.
Wie wird wohl die Idee für eine solch skurrile Veranstal-tung geboren? Wer schlägt im Rathaus mit der flachen Hand auf den stadteigenen Schreibtisch und jubelt: „Heureka! Das ist es, was wir unbedingt brauchen!“? Um das Image der „Hart-wie-Kruppstahl“-Stadt abzuschütteln, wird die vor-vorindustrielle Vergangenheit auf Teufel-komm-raus feingeputzt. Eine Gruppe junger Wissenschaftler schabt und kratzt die Geschichtsträchtigkeit aus allen Ecken der kühlen Stadt im Revier hervor und schleppt Archäologen, Heimatforscher, Museumspädagogen, mit sich: der Forscherbazillus ist ausgebrochen. In einer Stadt, in der es nichts zu sehen gibt, werden Gegenstände ausgestellt: Im Museum sieht man wenigstens etwas. Doch wie im Gruselkabinett bleiben die Dinge unwirklich und fast sakral, eine Begegnung mit der Vor-Zeit findet nicht wirklich statt. Daher auch eine historische Stadtkernführung, um Vergangenes verorten zu können.
Beim Betrachten eines Fresstempels gegenüber der Marktkirche entfährt einer älteren Dame ein wehmütiges Schluchzen. Ihr Gejammer gilt dem alten Gemäuer, das an dieser Stelle – man glaubt es kaum – gestanden hat. „Hier hat es gestanden“, flennt sie und küsst den heiligen Boden. Die übrigen Rentner nicken mit wissenden Blicken, ja auch sie kennen das alte Rathaus noch, backsteinern, trutzig, repräsentativ eben. Sicher sind sie allesamt dort ein- und ausgegangen, damals, als Trümmerberge noch die Wege versperrten, oder noch damaliger, als im Sommer die Nazifahnen an den geöffneten Fenstern klebten. Aufgeregt blättern wir in dem ausgegebenen Heftchen, um den Anlass für diese kollektive Gefühlsaufwallung kennenzulernen. Doch es findet sich nur das „zweite“ Rathaus in ihm, Seite neun. Ein weißbärtiger Gentleman nimmt uns jovial zur Seite und erklärt: Gegenstand des tränenreichen Gesprächs sei das dritte, das 1965 einem Kaufhaus weichen musste. Vom ersten gäb´s nur Zeichnungen, und das vierte ist das jetzige, Deutschlands höchstes, aber am wenigsten geliebtes. Wir lernen also auch noch etwas.
Am Zwölfling, dem Schlusspunkt der Führung, findet sich endlich eine alte Mauer. Der Führer lehnt an ihr und erzählt von einer Synagoge innerhalb der Stiftsmauern. Seltsam, dass die kreuzkatholischen Stiftsdamen Andersgläubige auf ihrem Territorium duldeten. Doch noch seltsamer: an dieser Stelle ist ja doch etwas scheinbar unbeteiligt stehengeblieben. Während alles ringsherum den Götzen Beton und Glas huldigen musste, erinnert dieses letzte Stückchen Mauer an die alte Stadt. Diese Mauer blieb übrig, sie allein trotzte den Wirren der Jahrhunderte, dem Bombenfraß des Zweiten Weltkriegs, der Wiederaufbau-Wut der Nachkriegszeit. An ihr wird Geschichte endlich begreifbar, ja, man kann an ihr kratzen, kann sie fühlen, an ihrem grünen Gewächs rupfen. An ihr sind vielleicht Flüchtlinge entlanggeklettert, Ketzer gesteinigt und Kinder geboren worden. Dieses Mäuerchen straft den Stadtführer Lügen, man sieht ja doch etwas, wenn auch wenig, wenn auch erst ganz zum Schluss. Man braucht also den längeren Atem, ein Schelm, dieser Führer, er wirkt zufrieden mit seinem lange herausgezögerten Sahnehäubchen. Klug angelegt, diese Führung. Die Rentner blicken ehrfürchtig, wir fühlen uns zum ersten Mal zugehörig, mit heißen Gesichtern lauschen wir den Worten des Führers. „Von dieser Stiftsmauer gibt es leider auch keine Überreste mehr, ungefähr dort“ lenkt er unsere Blicke auf das Kaufhaus gegenüber der Mauer, „dort hat sie gestanden. Ich habe Ihnen nicht zu viel versprochen: Sie sehen wirklich nichts!“ Er lächelt und dankt, nimmt Anbiederungen entgegen. Wir gehen taub den Zwölfling hinauf, schauen zurück auf die Ansammlung von Rentnern: wie schwirrende Bienen, denken wir, gehen weiter Richtung Kennedyplatz und trinken noch etwas.